Kapitel 3 Meine Geschichte

Ich, Uta, bin seit 40 Jahren in der digitalen Welt unterwegs. Mein beruflicher Weg verlief in der Welt der Männer. Mit der Zeit erkannte ich, welchen Wert meine feminine Seite zu dieser maskulin dominierten Welt beiträgt. Das war für mich nicht gleich offensichtlich. Ich hatte mich in der Berufswelt dem männlichen Kodex untergeordnet. Das erschien so normal, dass ich mein Leben in zwei Hälften aufgeteilt hatte. Im privaten Bereich als Hausfrau und Mutter von zwei Kindern, bei dem es um Spielplätze, Kindergarten und Kuchen backen für die nächste Schulveranstaltung ging, lebte ich meine weibliche Seite. Dort war ich fast ausschließlich mit anderen Frauen unterwegs und es hat viel Spaß gemacht. Die andere Hälfte meines Lebens drehte sich um die digitale Welt. In dieser Welt war ich fast nur mit Männern unterwegs. Ich freute mich über jede Frau, die sich neu in diese Welt wagte. 

Jedes Unternehmen is heute im Kern ein Softwareunternehmen, spätestens nach der Pandemie. Um Frauen den Weg in das Digitalzeitalter zu ebnen, habe ich das Modell für Feminine Agility konzipiert.

Die Regeln der Businesswelt wurden von Männern geprägt. Meine Generation Frauen ist die Erste, die in großem Stil Karriere macht. Keine meiner weiblichen Vorfahren war in dem Sinne, wie wir es heute meinen, berufstätig. Sie alle haben ausschließlich die von mir beschriebene Lebensseite gelebt, bei der es um Küche und Kinder ging. Genauso, wie mir dieser Aspekt meines Lebens gefallen hat, so waren auch meine weiblichen Vorfahren damit zufrieden. Genau, wie mir dieser Bereich alleine nicht mehr ausreicht, so möchte fast jede Frau heute zusätzlich ihr Potential in ihrer Berufung in dieser Welt nachkommen.

Forschungen von Claire Zammit und Jean Houston zeigen, dass Frauen bei diesem Wunsch auf Barrieren stoßen. Wenn ich über diese Blockaden nachdenke, fällt mir auf, dass auch ich hier meinen Weg gesucht habe und immer wieder neu durch meine Wiederstände brechen muss. Es wäre eine Erleichterung gewesen, wenn ich auf die Erfahrung und die Hilfe von anderen Frauen, die sich diesen Weg schon als Pioniere erarbeitet haben, zurückgreifen hätte können. Als Mutter von zwei Töchtern möchte ich deshalb diese Erkenntnisse mit anderen Frauen teilen und ein Leuchtturm für sie sein. Ich möchte, dass Frauen erkennen, dass der weibliche Beitrag im Digitalzeitalter von großer Bedeutung ist.

Als einzige Frau im Raum fühlte ich mich, wie der letzte Mann. Auch wenn ich genau so gut bezahlt wurde wie jeder Mann und immer respektvoll behandelt wurde, fühlte sich das „Frau sein“ an, wie ein Malus, den ich durch mehr Kompetenz ausgleichen musste. Ich selbst sah nichts, was ich rein aus der Tatsache heraus, dass ich eine Frau bin, in der Geschäftswelt zu bieten hatte. Es kam mir vor, als ob ich auf der gleichen Stufe stehe, wie ein Mann mit Behinderung. Das löste in mir ein unterschwelliges Gefühl von Würdelosigkeit aus. Das Geschenk, dass ich aus meiner weiblichen Präsenz zu bieten hatte, wurde mir erst viel später bewußt. Die feminine Kraft lag mir viel näher als meinen männlichen Kollegen. Intuition und Empathie ist meine Stärke. Immerhin war ich die erste Frau im Raum und ich versuchte nie der bessere Mann zu sein. 

In den siebziger Jahren bin ich in Namibia aufgewachsen, im tiefsten afrikanischen Busch, nachdem meine Familie von Deutschland nach Afrika ausgewandert war. Ich habe zwei Brüder, die mich schon früh in alles Technische einführten. Als ich mit 12 Jahren das Autofahren lernte, brachten sie mir nicht nur bei, wie man einen Reifen wechselt, sondern auch wie man den alten Jeep notfalls repariert, wenn man liegen bleibt, um nicht zu Fuß durch die Savanne nach Hause laufen zu müssen. So war Technik für mich nichts abschreckendes und ich studierte Anfang der achziger Jahre Informatik in Kapstadt. Ein Drittel meiner Kommilitoninnen dort waren Frauen. Ich kam zurück nach Deutschland und bekam 1984 bei der Firma Bosch in Stuttgart meine erste Stelle. Bei der Begrüßungsveranstaltung für neue Mitarbeiter war ich die einzige Frau unter ca. 70 Ingenieuren. Das ging in den Neunzigerjahren so weiter. Frauen tauchten in Europa selten in der Softwareentwicklung auf. Da ich jetzt als Trainerin und Beraterin viel international unterwegs war, traf ich auf viele Asiatinnen im Softwarebereich.

Erst bei genauerem Nachdenken über das feminine und das maskuline Prinzip fiel mir auf, dass wir Frauen die Yin Qualitäten mögen und verinnerlicht haben. Diese haben im Digitalzeitalter eine besondere Bedeutung, da Software ein nicht-materielles Gut ist.

Die alten Kulturen der Naturvölker, von deren Traditionen ich die Reste in Afrika und Nordamerika kennen lernen durfte, haben in ihren Bräuchen ein ausgeglichenes Verhältnis von feminin und maskulin. Dieses schloss auch die Natur und den Planeten als Lebensraum mit ein. Meine Kindheit in der afrikanischen Savanne lehrte mich den Umgang mit komplexen adaptiven Systemen. In diesen natürlichen Ökosystemen kann man nicht gut vorausplanen, da unerwartete Ereignisse passieren und Ursache-Wirkungsketten jedesmal andere Verläufe nehmen. Die Natur ist keine Maschine. Die unberührte Natur ist selbstorganisiert und kann mit Disruptionen umgehen. Ein Brand, eine Trockenheit, eine Heuschreckenplage oder eine Überschwemmung kommen regelmäßig vor. Hier können wir alles für unsere Organisationen des digitalen Zeitalters lernen. Die Natur verfügt über Resilienz als Gegenmittel zu VUKA (Verletzlichkeit, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität). 

Ich sehe die Dystopien, die in den Köpfen der Technokraten schwirren, die Yuval Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus: Eine Geschichte von morgen“ zusammengetragen hat, nicht als einzige mögliche Zukunft für die Menschheit. In diesem Narrative wird der Mensch zu einem Maschinenwesen, um mit intelligenten Maschinen mithalten zu können. Diese Diskussion habe ich zum ersten Mal im Alter von 20 Jahren mit meinem Professor an der Universität in Kapstadt geführt, als er mir eine schlechte Note für meinen Aufsatz zum Thema künstliche Intelligenz ausgeteilt hat, in dem ich ausgeführt habe, warum ein Computer nie besser als ein Mensch sein kann: er hat ja keine Seele und deshalb kein Bewusstsein. Meinen Professor der Philosophie konnte ich damals nicht überzeugen. Wenn man als Kind im afrikanischen Busch aufwächst, dann lernt man viel über das Netzwerk des Lebens. Dies ist die Yin Seite des Lebens, die unsere Yang Kultur vollständig verdrängt und nicht gelten läßt. Heute hätte ich für meinen Professor eine Menge wissenschaftliche Literatur aus der Quantenphysik zu bieten, in der meine Thesen bewiesen werden. Ervin Laszlo, Jean Houston und Larry Dosen haben in ihrem Buch „What is Consciousness“ die neueste Wissenschaft dazu zusammen getragen.

Barbara Marx Hubbard hat die Bewegung des „Conscious Evolution“ begründet. Ich stimme ihr zu, dass wir gemeinsam unser soziales Potential nutzen und bewußt bestimmen müssen, wo die Reise des Homo Sapiens hin geht. Barbara nannte es den Homo Universalis. Dazu brauchen wir unsere gesamten technischen Fähigkeiten aus der Digitalisierung und unser menschliches Bewusstsein. Dazu brauchen wir das feminine und das maskuline in Balance. Nur so stellen wir die Weiterführung unserer menschlichen Zivilisation sicher. Ähnlich, wie eine afrikanische Savanne sich nach Buschfeuer, Trockenheit und Flut regeneriert, so kann die Menschheit lernen sich selbst im Ausgleich zu halten. Die Yin Seite des Lebens braucht dazu seinen Raum.

Bei der Transformation von Unternehmen hin zu agilen Organisationen durfte ich in den letzten 20 Jahren viel Erfahrung sammeln. Zusammen mit den Begründern des agilen Frameworks Scrum, Jeff Sutherland und Ken Schwaber, konnte ich viel darüber lernen, wie Selbstorganisation funktioniert. Die noch jungen Unternehmen des Digitalzeitalters, wie Tesla, Spotify, Google und Amazon machen es uns vor. Diese Unternehmen zeigen, wie es möglich ist, mit Komplexität umzugehen. Ein Unternehmen, bei dem ich auch den Aspekt des „Conscious Evolution“ entdecke, bei dem es um den Fortbestand der menschlichen Entwicklung durch Technologie geht, sehe ich bei Elon Musk und seinen Unternehmen Tesla, Space-X und OpenAI. Auch wenn diese Firmen an der Spitze des technologisch möglichen agieren, so ist die Vision immer in Kohärenz mit dem Fortbestehen der menschlichen Zivilisation. Er hat den Axel Springer Award 2020 erhalten und in dem Interview dazu diese Visionen skizziert. Auch er ist im afrikanischen Busch aufgewachsen.

Bei Unternehmen, wie Google, mit seinen Visionären wie Ray Kurzweil, steht der Transhumanismus im Mittelpunkt. Aus dieser Sicht ist der Mensch an sich nur eine Maschine und Bewusstsein wird durch das Gehirn erzeugt, nicht umgekehrt. Der alte Streit, den ich als Teenager mit meinem Professor hatte, ist aktuell wie nie und zieht sich durch die Informatiksphäre. 

Ich sehe es als meine Aufgabe an, neue Organisationsformen für das digitale Zeitalter zu finden und zu gestalten. Diese werden uns Menschen befähigen das Potential unserer digitalen Hilfsmittel zu nutzen, für die Weiterentwicklung von uns selbst und unserer Zivilisation auf diesem Planeten. Das Bewusstsein und die Menschlichkeit werden dazu im Mittelpunkt stehen und die Technologie ist ein nützliches Tool. Frauen brauchen hierin ihren Platz.